Kurvenkratzer: So will Martina Hagspiel das Thema Krebs enttabuisieren
Als sie selbst an Krebs erkrankte, hätte sich Martina Hagspiel mehr Erfahrungsaustausch mit Betroffenen gewünscht. Ihr Projekt "Kurvenkratzer" soll das nun ermöglichen.
Martina Hagspiel hat selbst erfahren, was es bedeutet, durch eine Krebserkrankung aus dem Berufsleben herausgerissen zu werden. Seither folgt sie als InfluCancer einer Mission: Ihre Plattform Kurvenkratzer möchte das Thema Krebs einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und verständlich machen, einen Erfahrungsaustausch in Gang bringen und Vorurteile abbauen.
Diagnose Krebs
Begonnen hat es 2010. Ich war wegen eines Knotens in der Brust bei einer Ärztin, aber sie hat mich wieder weggeschickt: Ich solle nicht hysterisch sein, mit Anfang 32 habe man noch keinen Brustkrebs. Neun Monate später war der Knoten aber immer noch da. Ich habe mich wieder untersuchen lassen, schnell zwischendrin, in der Mittagspause. Aus dieser Pause bin ich nicht mehr in mein gewohntes Leben zurückgekehrt. Die Diagnose war eindeutig: Brustkrebs. Mit der genauen Abklärung und der Behandlung musste ich sofort beginnen. Ich hatte damals einen Versicherungsmaklerbetrieb, mein Leben war von Arbeit und Erfolgsstreben geprägt.
Die Therapie – ein Sprung ins Ungewisse
Ich wurde operiert, dann folgten Chemotherapie, Bestrahlungen, der künstliche Wechsel und bis letztes Jahr musste ich ein Antihormon nehmen. Rückblickend kann ich sagen: Besonders zu Beginn wird man mit einer riesigen Menge an Informationen überflutet und muss viele Entscheidungen treffen, ohne Erfahrungswerte zu haben. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, was auf mich zukommt. Und genau diese Unsicherheit macht Angst, nimmt einem die Zuversicht und Stärke, die man braucht, um sich mit ganzer Kraft dem Gesundwerden zu widmen.
Nicht nur ich selbst, auch mein Umfeld war emotional total überfordert. Dabei ist das persönliche Umfeld in dieser Situation besonders wichtig – aber eben auch ratlos. Wenn mich jemand gefragt hat, wie er mir helfen kann, hatte ich keine Antwort. Ich wusste ja selbst nicht, was auf mich zukommen würde. Und auch die Kommunikation zwischen Arzt und Patientin ist ein schwieriges Thema mit Konfliktpotenzial. Und nirgendwo fand ich, was ich mir so sehr wünschte: Erfahrungswerte von anderen Betroffenen, an denen ich mich orientieren konnte.
Zum Glück versichert
Erst Anfang 2012 habe ich langsam wieder begonnen, in meiner Firma zu arbeiten – in kleinen Schritten, behutsam und geringfügig beschäftigt. Ich hatte zunächst wirklich wenig Energie, und auch meine Konzentrationsfähigkeit und mein Erinnerungsvermögen waren stark geschwächt. Ich musste diese Fähigkeiten erst wieder aufbauen.
Zum Glück hatte ich zwei Versicherungen abgeschlossen, die auch den Verdienstentgang wegen Krankheit beinhalteten. Das hat mich vor dem Konkurs gerettet. An so etwas denkt man unter normalen Umständen gar nicht, aber ohne diese Absicherung hätte die Krankheit auch beruflich schlimme Folgen gehabt.
Neue Lebensziele
Ich habe bald festgestellt, dass ich nicht mehr so leistungsfähig war, wie davor. Vor allem aber machte mir die Arbeit in der Versicherungsbranche keine Freude mehr. Im Dezember 2013 habe ich meine Firma schließlich verkauft, denn ich hatte einen Plan: Ich wollte ein Buch über die Erfahrungen von vom Krebs betroffenen Menschen herausgeben. Ich wollte alle die Informationen, die ich selbst mir gewünscht hätte, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen.
Tabuthema Krebs
Eigentlich ist es ja ganz logisch: Nach der Diagnose und der Behandlung verfügt man über jede Menge Wissen und Erfahrungen über die Herangehensweise an das Thema, über Lösungswege, Ressourcen und Tipps aus der Praxis. Aber am Anfang dieses Prozesses findet man kaum jemanden, der einem dieses Wissen zur Verfügung stellt. Und ich habe erlebt – aber erst als ich selbst offensiv mit dem Thema umgegangen bin – wie stark die Krankheit Krebs stigmatisiert und tabuisiert wird.
Ich erkannte plötzlich, wie viele Menschen, auch aus dem persönlichen Umfeld, von Krebs betroffen sind, ohne dass ich zuvor davon wusste. Denn erst wenn man von der eigenen Diagnose erzählt, beginnt ein Austausch. Das war der Auslöser für mich. Und ich habe beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen.
Ein ungewöhnliches Projekt
Kurvenkratzer startete also als Buchprojekt. Das Buch sollte mit starken Texten und tollen Fotos die individuellen Geschichten Betroffener erzählen. Mit Hilfe des Grazer Fotografen Christian Jungwirth konnte ich Foto-Stars wie Greg Gorman, Veronique Vial, Christian Schuller oder Billy & Hells für das Projekt gewinnen. Am Ende hatte ich 16 Zusagen, die Liste liest sich wie die Foto-Credits der Vogue – von mehreren Ausgaben. Ich war total überrascht, dass sich so große Namen zur Zusammenarbeit bereit erklärten. Die Idee hat Ihnen wohl einfach gefallen, oder vielleicht waren sie ja auch schon persönlich mit dem Thema konfrontiert gewesen.
Suche nach finanziellen Mitteln
Um die nötigen Mittel für die Produktion aufzustellen, habe ich ein Crowdfunding auf Kickstarter gelauncht, 75.000 Euro hatten wir für die Realisierung veranschlagt. Leider haben wir unser Finanzierungsziel nicht ganz erreicht, das gesammelte Geld wird in solchen Fällen – wie bei Crowdfunding-Projekten üblich – nicht ausgezahlt.
Auch der Versuch, einen Verlag zu finden, war nicht von Erfolg gekrönt. Erst als mir ein Verleger erklärt hat, er wüsste nicht, ob er mein Buch als Ratgeber oder Kunstband betrachten sollte, habe ich erkannt, dass es keine Schublade dafür gab. Ich musste einen anderen Weg an die Öffentlichkeit suchen.
Kurswechsel und frischer Wind
Im Sommer 2016 übersiedelte ich nach Wien, seit Oktober 2016 bin ich Marketingverantwortliche des Österreichischen Gewerbevereins. Ich beschloss, das Projekt eine Zeit lang ruhen zu lassen. In dieser Zeit habe ich dann Videojournalistin Vera Gasber kennengelernt, die eine Dokumentation über Haarverlust drehen wollte. In ihr fand ich die richtige Partnerin, mein Thema umzusetzen. Inzwischen gibt es statt des Buchs eine Reihe von Videos, einen Verein, einen Beirat und ein Team. Die Website wurde ausgebaut und unsere Social Media Kanäle sind ziemlich aktiv.
Krebs als Lebensumstand
Wichtig ist mir, zu zeigen, wie man mit der Erkrankung umgehen kann. Wie man den negativen Erfahrungen, die dazu führen, dass niemand darüber sprechen mag, positive Emotionen entgegensetzt. Ich wollte die Krebserkrankung und das Leben damit als Lebensumstand, als Lifestyle quasi, zeigen. Denn ganz im Gegensatz zur landläufigen Annahme muss Krebs nicht tödlich verlaufen. Überlebensraten und Dauer steigen stetig, laufend werden neue Therapien und bessere Behandlungsformen gefunden. Das heißt, Krebs ist tatsächlich ein Lebensumstand geworden.
Dazu kommt, dass das Thema nach der unmittelbaren Behandlung nicht einfach weg ist. Es gibt viele Langzeitfolgen, die Belastbarkeit ist anders, der Ruhebedarf und auch das Angstniveau. Die Angst vor der Wiedererkrankung schwingt immer ein wenig mit. Das Leben danach ist also in der Regel anders als das Leben davor. Aber – und genau das erzählen unsere Interviews – es gibt auch jede Menge positive Erfahrungen. Es entsteht viel Gutes aus dieser Erfahrung, und auch das sollen die Menschen wissen.
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Über Krebs sprechen
Inzwischen habe ich jede Menge Mitstreiter gefunden, die sich für das Projekt engagieren und mithelfen, Vorurteile und Ängste abzubauen. Seit Mitte September läuft unsere Kampagne Talk About Cancer, für die ich großartige Botschafterinnen und Botschafter aktivieren konnte. Für die Sujets ließen sich etwa Richard Mauerlechner vom Weekend Magazin, Paul Leitenmüller vom OpinionLeaders Network, Ulrike Rabner-Koller, die Vizepräsidentin der WKO, Monica Rintersbacher von den Leitbetrieben Austria oder Martina Denich-Kobula von der Frau in der Wirtschaft Wien fotografieren.
Allen Beteiligten ist gemeinsam, dass sie die Wichtigkeit des Anliegens erkannt haben und daher unterstützen: Der Erfahrungs- und Gedankenaustausch Betroffener soll einfacher werden, dafür wollen wir die Basis schaffen.
Wir sind immer noch auf der Suche nach Sponsoren. Nach den bisherigen Erfahrungen bin ich aber zuversichtlich, dass wir sie finden. Schließlich kennt doch fast jeder, wenn er nur kurz nachdenkt, in seinem persönlichen Umfeld jemanden, dem das Thema nur zu vertraut ist.
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